Die letzte halbe Spielminute - Ball im Spiel (8:10d)

Der zweite Teil der "besonderen" Regel, welche die letzten 30 Sekunden betrifft, umfasst Situationen, in welchen der Ball im Spiel ist. "Ball im Spiel" bedeutet, im Gegensatz zum bereits im letzten Beitrag erklärtem Begriff "Ball nicht im Spiel", dass der entsprechende Wurf (Abwurf, Anwurf, Einwurf, Freiwurf oder 7-Meter-Wurf) bereits ausgeführt wurde. Der Ball darf also gespielt werden.

 

Würde man die neue Regel kurz erklären, wäre lediglich zu erwähnen, dass die bisherige Rote Karte mit Bericht durch eine 7-Meter-Entscheidung ersetzt wird.

Leider ist diese Erklärung ungenügend. Daher wollen wir auch hier zunächst auf die ursprüngliche Regel (d.h. vor der Regeländerung 2010) eingehen.  

 

Beispiel 1: Warum wurde die Regel ursprünglich eingeführt?  Regelwerk vor 2010

Team A leitet 10 Sekunden vor Spielende beim Spielstand 30:31 einen schnellen Angriff ein. Die Deckung von Team B ist noch nicht formiert. Spieler B10 realisiert, dass der ballführende Spieler A5 eine Überzahlsituation erreichen und dadurch eine gute Torwurfmöglichkeit für Team A entstehen könnte. Um dies zu verhindern, begeht Spieler B10 ein grob unsportliches Foul an Spieler A5 , indem er ihn von hinten stößt, wodurch Spieler A5 Körper- und Ballkontrolle verliert. Die Schiedsrichter unterbrechen das Spiel und geben Spieler B10 eine Rote Karte.

 

Da es sich hier jedoch um keine klare Torgelegenheit gehandelt hat, lautete die Spielfortsetzung Freiwurf für Team A. Spieler B10 erhielt zwar die Rote Karte, aber er erreichte sein Ziel und sicherte durch diese gesundheitsgefährdende Aktion seiner Mannschaft den Sieg. Er durfte im nächsten Spiel wieder spielen.  

 

Beispiel 1a: Situation nach der Regeländerung 2010.

.... Die Schiedsrichter unterbrechen das Spiel und geben Spieler B10 eine Rote Karte mit Bericht und entscheiden auf Freiwurf für A. Spieler B10 hat zwar sein Ziel erreicht, aber er wird  nachträglich für das/die nächste/n Spiel/e gesperrt sein.

 

Beispiel 1b: Auswirkungen der Regeländerung 2016.

.... Die Schiedsrichter unterbrechen das Spiel und geben Spieler B10 eine Rote Karte ohne Bericht und, obwohl keine klare Torgelegenheit für Team A gegeben war, entscheiden sie regelkonform auf 7-Meter-Wurf.

 

Am letzten Beispiel ist ersichtlich, dass überharte Fouls in den letzten 30 Sekunden nach der neuen Regel "doppelt" bestraft werden. Es wird nicht nur der betreffende Spieler bestraft, sondern auch durch die 7-Meter-Entscheidung die gesamte Mannschaft, da hier aus KEINER klaren Torgelegenheit eine klare Torgelegenheit entsteht. Dadurch kann die neue Regel das Endergebnis stark beeinflussen.

 

Bevor wir uns weiter mit der neuen Regeländerung beschäftigen, schauen wir uns kurz den wesentlichen Unterschied zwischen der Regel 8:10c (Ball nicht im Spiel) und der Regel 8:10d (Ball im Spiel) an.

 

Wenn der Ball nicht im Spiel ist, "mutiert" eine übliche 2-Minuten-Strafe im Zusammenhang mit der Verzögerung der Wurfausführung in den letzten 30 Sekunden zu Rot ohne Bericht und zum begleitenden 7-Meter-Wurf (s. unseren vorherigen Blogbericht)!

Wenn der Ball allerdings im Spiel ist, bleibt eine 2-Minuten-Strafe auch in den letzten 30 Sekunden "nur" eine 2-Minuten-Strafe. Wenn es keine Rote Karte gibt, gibt es auch keinen 7-Meter-Wurf aus einer nicht vorhandenen klaren Torgelegenheit. 

Die Schiedsrichter dürfen in den letzten 30 Sekunden, wenn der Ball im Spiel ist, nur dann eine Rote Karte aussprechen, wenn sie diese auch z.B. in der 5. Minute des Spieles für die gleiche Situation ausgesprochen hätten. 

 

Strafenübersicht in den letzten 30 Sekunden, wenn der Ball im Spiel ist.

  • Ein Vergehen für eine 2-Minuten-Strafe bleibt eine 2-Minuten-Strafe.
  • Ein Vergehen für eine Rote Karte wird mit einer Roten Karte bestraft und zusätzlich wird auf einen 7-Meter-Wurf entschieden (Ausnahmen s. nächsten Absatz).
  • Ein Vergehen für eine Rote Karte mit Bericht wird mit einer Roten Karte mit Bericht bestraft und zusätzlich wird auf ein 7-Meter-Wurf entschieden (Ausnahmen s. nächster Absatz).
  • Achtung: KEINE ÄNDERUNG DER BEURTEILUNGSKRITERIEN GEMÄSS REGEL 8 IM GEGENSATZ ZUR REGEL 8:10c!

 

Führen alle Roten Karten in den letzten 30 Sekunden automatisch zu einem 7-Meter-Wurf? Fast!

Die Regel 8:10d besagt nämlich, dass nur Situationen betroffen sind, die durch ein Vergehen eines Spielers gemäß den Regeln 8:5 bzw. 8:6 sowie 8:10a bzw. 8:10b (II) oder durch ein Vergehen eines Offiziellen gemäß den Regeln 8:10a bzw. 8:10b der gegnerischen Mannschaft die Chance genommen wird, in eine Torwurfsituation zu kommen oder eine klare Torgelegenheit zu erreichen.

 

1. Das Vergehen wird als Regelwidrigkeit gemäß Regel 8:5, 8:6. 8:10a oder 8:10b beurteilt. Hiermit sind fast alle möglichen Roten Karten laut Regelwerk erfasst. Ausgenommen ist Regel 8:9, welche beispielhafte Situationen aufzählt, die nicht im Sinne der Regel 8:10 gedeutet werden können.

2. Der gegnerischen Mannschaft wird die Möglichkeit genommen, in eine Torwurfsituation oder  in eine klare Torgelegenheit zu kommen. Dieser Punkt wird allerdings so ausgelegt,  dass alle Situationen zu einer Torwurfsituation führen können.  

Die Beurteilung der Möglichkeit, ob eine Mannschaft in eine Torwurfsituation hätte kommen können, liegt somit NICHT im Ermessen der Schiedsrichter.

 

Beispiel 2: Rote Karte die nicht zum 7 - Meter führt.

Spieler A2 wird vom Spieler B5 gefoult (keine klare Torgelegenheit).  Die Schiedsrichter unterbrechen das Spiel und sprechen eine 2 Minuten Strafe gegen den Spieler B5 aus. Daraufhin beschimpft der Spieler B5 den Schiedsrichter. Die Schiedsrichter entscheiden jetzt auf Rote Karte mit Bericht (=Blaue Karte). 

 

In diesem Fall führt die Rote Karte (=Blaue Karte) nicht zum 7 - Meter Wurf gemäß Regel 8:10d. Durch das zweite Fehlverhalten des Spielers B5 (Beleidigung des Schiedsrichters) wurde dem Gegner keine Chance genommen in eine Torwurfmöglichkeit zu kommen, da das Spiel bereits unterbrochen war.

Das Fehlverhalten, welches ursprünglich zur Spielunterbrechung geführt hat, wurde nur mit einer 2-Minuten Strafe geahndet und daher ist nicht auf 7 - Meter Wurf zu entscheiden.

 

Zum Abschluss noch einige Besonderheiten der neuen Regel!

 

Beispiel 3:

Ausgangssituation wie im Beispiel 1, mit dem Unterschied, dass der Spieler A5 den Ball noch weiterspielen kann. Die Schiedsrichter gewähren vorerst Vorteil. Spieler A7 bekommt den Ball und wirft frei und ungehindert von der 6 Meter-Linie auf das Tor von B. Tormann B1 wehrt ab und der Ball gelangt ins Toraus. Die Schiedsrichter geben jetzt Time-Out, Spieler B10 erhält die Rote Karte und sie entscheiden, trotz des ungehinderten Wurfes auf das Tor, auf 7-Meter-Wurf.

 

Laut Regelwerk darf Vorteil gewährt werden. Nutzt die Mannschaft die Vorteilsgewährung nicht aus, wird trotzdem auf 7-Meter-Wurf entschieden. Das ist die Ausnahme der allgemeinen Vorteilsregel.

 

Die neue Regeländerung lautet wörtlich:

 

"Erzielt der gefoulte Spieler oder ein Mitspieler noch vor der Spielunterbrechung ein Tor, entfällt der 7-Meter-Wurf. "

 

Dieser letzte Satz der Regel 8:10d erscheint möglicherweise etwas unklar, da aus der Regel nicht klar herauszulesen ist, was passieren soll, wenn vor der Spielunterbrechung kein Tor erzielt wird. Wie dieser Satz jedoch zu interpretieren ist, ist in der folgenden IHF-Interpretation eindeutig definiert:

 

Der Angreifer ist in der Lage, ein Tor zu werfen: Kein 7-Meter-Wurf.

Der Angreifer passt den Ball, sein Mitspieler erzielt kein Tor: 7-Meter-Wurf.

Der Angreifer passt den Ball, sein Mitspieler erzielt ein Tor: Kein 7-Meter-Wurf.

 

Es gilt auch zu beachten, dass nach IHF-Interpretation vor einer 7-Meter-Entscheidung gemäß Regel 8:10d, höchstens ein zusätzlicher Pass zu einem Mitspieler erlaubt ist. Dadurch werden die Schiedsrichter angewiesen einen möglichen Vorteil abzupfeifen!

 

Abschließend ist es zu sagen, dass es sich hier um eine sehr komplexe Regel handelt. Es wäre wünschenswert, dass sich alle Beteiligten (Spieler, Trainer, Schiedsrichter, Zuschauer aber auch Medien) mit dieser Regel auseinandersetzen, da sie durch ihre Komplexität durchaus missverstanden werden kann.

WHV-RSK - Juni 2016; Korrektur: 10.4.2018, "Interpretation - in eine Torwurfmöglichkeit zu kommen" + Beispiel 2